Es war einmal ein kleines Dorf. Dieses lag am Rand eines riesigen Waldes. Die Menschen dort waren nicht sehr reich, aber sie hatten immer genug zu essen. Eines Tages aber konnten sie nicht mehr jagen gehen, denn kein einziges Reh war mehr da. Auch gab es keine Wildschweine mehr. Auf den Feldern der Menschen wuchs kein einziges Korn mehr. Doch das Schlimmste war; die Frauen konnten keine Kinder mehr kriegen. Da wurden die Menschen sehr wütend. Da sie sich nicht erklären konnten, woran das lag, erinnerten sie sich, dass im Wald die Buchenfrau lebte. In ihrer Not gaben sie ihr die Schuld.
Die Bauern überlegten sich lange, wie sie das Zauberwesen aus dem Wald holen konnten. Aber weil sie so Angst hatten, fiel ihnen nichts Gescheites ein.
Im Dorf aber hatte ein Zirkus halt gemacht und sie fragten den stärksten Mann, ob nicht er die Buchenfrau an den Haaren aus dem Wald schleifen konnte. Der starke Mann sagte natürlich ja. Denn schliesslich war er stärker als alle Leute im Dorf und erst recht alle Frauen zusammen. Er stapfte in den Wald und rief nach ihr.
Die Bauern warteten zitternd vor dem Wald. Doch der starke Mann kam nicht mehr heraus. Erst nach einer Woche rannte er weinend und ganz schwach aus dem Wald. Die Bauern jagten ihn wütend davon.
Nach ein paar Tagen versuchte ein Jäger sein Glück. Er war fest überzeugt, dass er mit seinem Gewehr der Buchenfrau den Garaus bereiten könnte. Doch auch er hatte kein Glück.
Im Dorf wohnte ein junger Anwalt namens Michael. Als er sah, wie es seinen Nachbarn immer schlechter ging, fasste er sich ein Herz und machte sich auf den Weg, um mit der Buchenfrau zu sprechen.
Michael machte sich am selben Tag auf, um sich durch den Buchenwald zu kämpfen. Er wanderte einen Tag und eine Nacht, ohne an den Rand des Waldes zu kommen. Verzweifelt setzte er sich irgendwann auf den Boden, denn er hatte Hunger und Durst.
Da er hörte er hinter sich die feine Stimme einer Frau. Er drehte sich um und staunte nicht schlecht. Sie besass langes rostbraunes Haar und auf ihrem ganzen Körper klebten Buchenblätter.
„Wer bist du?“ fragte sie.
„Ich bin Michael. Und wie ist dein Name?“
Sie lächelte sanft.
„Ich bin die Buchenfrau.“
In jenem Moment verliebte er sich in die Buchenfrau, denn sie war wunderschön. Er setzte sich neben sie und sie redeten miteinander viele Stunden lang. Sie schenkte ihm Wasser ein und gab ihm etwas zu essen. Er vergass die Zeit.
Er nahm sich schliesslich all seinen Mut zusammen und fragte sie, ob sie ihn heiraten würde. Die Buchenfrau blickte ihn an und nickte.
Als er mit der Buchenfrau ins Dorf zurück kehrte, war die Verwunderung gross. Die Menschen hatten die Buchenfrau noch nie aus der Nähe gesehen und waren erstaunt über ihre Schönheit und ihre Lebenskraft. Alles, was sie im Vorbeigehen berührte, begann zu blühen. Das Land erholte sich wieder. Die Frauen wurden wieder schwanger. Die Felder trugen wieder Früchte.
Er nahm die Buchenfrau an der Hand und führte sie in sein Haus, um sie seiner Mutter vorzustellen. Diese rümpfte die Nase, als sie die Blätter bemerkte, die immerzu von der Buchenfrau abfielen. Als die Mutter aber bemerkte, wie glücklich ihr Sohn aussah, wenn er die seltsame Frau mit dem rostroten Haar anschaute, hiess sie sie willkommen.
Ein paar Tage später gaben sich Michael und die Buchenfrau das Ja-Wort. Die Kirche war voller Dorfbewohner, die sich nicht an der Schönheit der Buchenfrau satt sehen konnten.
Von jenem Tag an hatte Michael jede Menge Arbeit, denn die Dorfbewohner kamen nun bei jedem Problem zu ihm. Der eine beschwerte sich über zu nahe gesetzte Bäume am Acker, der zweite wollte einen Rat in Sachen Wassergraben. Der dritte regte sich darüber auf, dass ihm sein Nachbar eine kranke Kuh verkauft hatte. Michael vermittelte und gab Ratschläge. Die Dorfbewohner belohnten ihn mit Geld und Lebensmitteln. Er wurde jeden Tag reicher.
Doch mit seinem Reichtum wuchs auch das Gift der Streitigkeiten in ihm heran. Freute er sich anfangs noch, wenn er seine Frau in der Küche sah, regte er sich plötzlich über ihr fallendes Laub und Krabbeltiere auf. Wenn sie für ihn Bucheckern kochte, schmeckte es ihm nicht mehr. Die Buchenfrau bereitete Blätter und Äste zu wunderbaren Festmählern zu. Doch Michael hatte keine Freude mehr daran.
Eines Tages kam er nach Hause und fand seine Frau inmitten eines grossen Laubhaufens. Die Blätter waren von ihr abgefallen und sie sah sehr krank aus. Er bemerkte eine harzige Narbe an ihrem Körper.
Sie hatte sich das Herz für ihn herausgeschnitten, um es für ihn zu kochen. Er schämte sich.
Er nahm seine Frau auf die Arme und ging zurück in den grossen Buchenwald. Er legte sie vor ihren Baum und sah zu, wie sie wieder ein Teil des Waldes wurde. Er blieb viele Stunden vor dem Baum sitzen und weinte. Die Dorfbewohner kamen zu ihm und versuchten, ihn umzustimmen, damit er wieder ins Dorf zurückkäme. Doch Michael blieb vor dem Baum sitzen. Unverrichteter Dinge kehrten die Menschen wieder zurück ins Dorf.
Als sie am nächsten Tag wieder zur Buche gingen, war Michael verschwunden. Ein kleines Kind entdeckte jedoch einen goldenen Ring, der fest mit dem Baum verwachsen war. Die Buche hatte ihn so sehr umarmt, dass er eins mit ihr und der Buchenfrau wurde.
Die Menschen kehrten traurig und ehrfürchtig zurück in ihr Dorf. Michael vergassen sie nie. Es wird berichtet, dass die Menschen sich von jenem Tage an immer rücksichtsvoll gegenüber der Natur verhielten.
„Die Buchenfrau“ und „Die Krähenfrau“ – soeben kurz hintereinander gelesen – sind für mich Neu,Mythologische Meisterleistungen: Vollkommen ambitionsfrei und bescheiden treten sie auf, erzäber alles, was es über Menschen zu sagen gibt. Hier ist offensichtlich ein ganz eigener und selbstsicherer Erzählton! Danke.
LikeLike