Es waren einmal ein Mann und eine Frau. Sie trafen sich inmitten eines grossen Parks, umgeben von hohen, alten Bäumen an einem grossen See. Auf der Halbinsel lebten viele Vögel; Enten, Schwäne, Spatzen und Krähen. Es war Frühling. Sie redeten über dies und das und genossen auf einer Bank die Sicht aufs weite Wasser. Sie unterhielten sich gut und versprachen sich, am nächsten Tag wieder hier her zu kommen. Dies taten sie von nun an jeden Tag. Jeden Abend sassen sie nebeneinander auf der Bank, sprachen über ihr Leben, die Bücher die sie lasen und das Wetter.
Dem Mann fiel auf, wie schön die Frau war. Die Frau sah die warmen Augen des Mannes und war verzaubert von seiner Stimme. Als der Sommer kam, waren der Mann und die Frau umgeben von Badenden. Sie sassen weiterhin auf ihrer Bank. Manchmal berührten sich ihre Hände zaghaft. Am Ende des Sommers gab der Mann der Frau einen Kuss. Die Frau spürte, dass sie den Mann in jenen Monaten immer lieber gewonnen hatte. Sie freute sich jedes Mal, wenn sie ihn sah. Er flüsterte ihr liebe Worte ins Ohr, denn ihre Schönheit und ihre Klugheit gefielen ihm sehr.
Aber eines Tages wartete die Frau vergebens. Der Mann kam nicht mehr an den See. Sie machte sich Sorgen, doch da sie nicht wusste, wo er wohnte und wie sein Nachname war, konnte sie ihn nicht suchen.
Als er auch nach drei weiteren Tagen nicht mehr auftauchte, weinte die Frau bitterlich. Da bemerkte sie neben sich auf der Wiese eine grosse Krähe mit weissen Federn auf der Brust. Die Krähe blickte die Frau freundlich an. Da erzählte die Frau all ihr Leid und ihre Sorgen der Krähe. Auch als die Frau anfing zu weinen, blieb die Krähe.
Von dem Tag an kam die Frau jeden Tag in den Park, um die Krähe zu sehen. Es dauerte keine fünf Minuten, bis das Tier an ihrer Seite Platz nahm und ihr zuhörte. Die Frau brachte der Krähe Brot, Fleischstückchen und Früchte mit. Diese frass die Krähe genüsslich, in sicherem Anstand, von der Frau.
Nach ein paar Wochen gesellte sich auch eine zweite Krähe dazu.
So vergingen der Herbst und der Winter und der Frühling kam wieder.
Die Frau ging jeden Tag in den Park, ganz egal, ob es schneite, stürmte, regnete. Sie kannte bald alle Krähen des Clans. Sie waren zwar nicht zahm, aber sie kamen ihr langsam näher und verloren ihre Scheuheit. Die erste Krähe aber sass neben ihr auf der Bank und blickte sie an.
So vergingen die Jahre. Eines Tages fand die Frau ihre Krähe nicht mehr. Die anderen Krähen sassen auf dem grossen Baum und schwiegen. Da wusste sie, dass sie tot war. Die Frau sammelte die Federn der Krähen auf und begann daraus ein Kleid zu weben.
Die Menschen hielten die Frau für sonderlich. Sie nannten sie die Krähenfrau. Sie sprach immer weniger, bis sie schliesslich ganz verstummte.
Tag für Tag sass die Krähenfrau auf ihrer Bank am See und sprach mit den Kindern ihrer toten Krähe, schliesslich mit den Enkeln und den Urenkeln. Viel Zeit verging. Das Kleid aus Krähenfedern wurde immer dichter.
Eines Abends im September, die Frau blickte auf den See heraus, da traten ein Mann und seine Frau in den Park. Es war jener Mann, den die Frau so sehr herbei gesehnt hatte. Sie waren alle älter geworden. Der Mann hatte also eine andere Frau gefunden. Die Krähenfrau lächelte traurig. Als der Mann und seine Frau an der Bank vorbeikamen, hielten sie inne.
Die Krähenfrau hatte ihr Kleid aus Krähenfedern übergeworfen und blickte auf den See heraus.
Als der Mann und seine Frau sich neben sie setzen wollten, schwang die Krähenfrau ihre Arme und erhob sich vom Boden. Sie breitete ihre Arme, die zu Flügeln geworden waren, aus und flog in Richtung Himmel davon.
Der Mann und seine Frau staunten über die grosse Krähe, die eben noch auf der Bank gesessen hatte. Von dem Tag an hat niemals jemand mehr die Krähenfrau gesehen.