Bestimmt kennen Sie das. Es gibt Bücher, die treffen Sie wie ein Schlag ins Gesicht, weil sie all jenen unausgesprochenen Gefühlen plötzlich Worte verleihen. Eines dieser Bücher ist für mich „Rabentöchter“ von Julia Onken. Schon der erste Satz des ersten Kapitels treibt mir immer wieder Tränen in die Augen:
„Mutter, ich trage Dich wie eine Wunde auf meiner Stirn.“
Die Autorin geht dabei der Beziehung zwischen Mutter und Tochter auf den Grund. Sie zeigt auf, warum diese Beziehung zwischen Liebe und Ablehnung schwankt. Ich meine, welche Frau kennt den Satz nicht: „Ich möchte nie wie meine Mutter sein“?
Auch ich kenne diesen Satz nur zu gut. Ich wollte nie wie meine Mutter sein.
Sie ging mir oft auf die Nerven. Während meiner Pubertät hasste ich sie sehr; ihr unsicheres Lächeln, ihre abgekauten Nägel, ihre peinlichen Witze. Ich hätte alles für eine andere Mutter gegeben.
Die Auseinandersetzung mit dem Sein und der Beschämung meiner Mutter begann eigentlich sehr früh. Ich kam als älteste Tochter, langersehnt, zur Welt. In meiner frühen Erinnerung, vielleicht sind es auch nur Eindrücke von verschwommenen Fotos, sitzen meine Mutter und ich auf dem Ast eines Baumes. Sie lächelt scheu. Meine Mutter ist eine wunderschöne Frau mit schwarzbraunen Haaren, dunklen Augen und dunklem Teint. Sie trägt ein rotweiss geblümtes Hemd, das ihren hochschwangeren Bauch verdeckt. Niemand hat damals wohl geahnt, dass es das letzte Bild sein wird, das sie als glückliche, gesunde, junge Frau zeigt.
Knapp zwei Jahre nach mir wurde mein kleiner Bruder geboren. Im Gegensatz zu mir war er kerngesund. Drei Tage nach seiner Geburt ist er tot.
Für meinen Vater war und ist es eine totale Katastrophe. Für meine Mutter war es ein weiterer Schritt in der Beschämung ihrer Weiblichkeit. Meine Mutter wurde als Teenager missbraucht. Ihr einziges Glück bei der Sache war wohl, dass sie damals noch nicht gebärfähig war. Wie sie diese Tat verarbeitet hat, weiss ich nicht. Sie hat nie darüber gesprochen. Erfahren habe ich die Geschichte von meiner Grossmutter und beim Auffinden von Briefen des Täters.
Einige Jahre später, sie heiratete mit 23, erlitt sie eine Fehlgeburt. Dies geschah vor meiner Geburt. Von Beginn ihrer Ehe weg versuchte sie, schwanger zu werden. Erst drei Jahre später gelang es ihr. Wie sehr muss sie der Tod meines Bruders getroffen haben.
Zu der ganzen Trauer um meinen Bruder kommt jedoch die Frage nach der Schuld: Die Ärzte damals machten es sich sehr leicht: Meine Mutter war in ihren Augen schuld, da sie während der Schwangerschaft geraucht hatte. Sie war von da an eine gebrochene Frau. Jedes Jahr um die gleiche Zeit, im September, einige Tage nach ihrem Geburtstag, versuchte sie sich umzubringen.
Wenn ich all das anschaue, bekomme ich ein anderes Bild von meiner Mutter. Ich sehe eine hochsensible, liebevolle und liebesfähige Frau, der das Leben den Mut und die Kraft genommen hat. Sie war verletzt, fühlte sich schuldig am Tode ihres Kindes. Sie muss sich nicht mehr liebenswert und nicht mehr weiblich, mütterlich gefühlt haben. Mir fiel nämlich auf, dass sie in der Zeit ihre langen, dunklen Haare abgeschnitten hatte, was eher unüblich war damals.
Die Trauer, diese unerträgliche „Schuld“ hat meine Mutter bis ans Ende ihrer Tage verfolgt. Nie konnte sie damit abschliessen, weil niemand sie davon befreien konnte.
Aber was kann ich tun?
Meine Mutter lebt nicht mehr. Sie starb vor bald sechs Jahren, 56jährig. Ich werde ihr nicht mehr sagen können, wie sehr ich sie geliebt habe, wie sehr sie mir fehlt. Ich werde ihr nicht mehr beistehen können während ihrer Trauer. Auch das Kind bringt niemand zurück. Die Möglichkeiten scheinen klein.
Nach der Auseinandersetzung mit „Rabentöchter“ beschloss ich, dass ich den Frauen meiner Familie auf die Spur gehe. Ich forschte in meinem Stammbaum und versuchte so, meinen Ahninnen einen Namen zu geben und wo möglich, herauszufinden, wie ihr Leben war. Wer sie waren.
Ich entdeckte Unglaubliches:
Die Linie der Beschämung, der „Schuld“, zieht sich generationenweise hin. Sie verloren ihre Kinder, wurden missbraucht, konnten keine Ausbildungen machen und waren arm. Ich entdeckte, dass meine Urgrossmutter ebenfalls ein Kind früh verloren hatte. Auch sie starb im selben Alter wie meine Mutter.
„Rabentöchter“ zeigt auf, wie Beschämungen, dunkle Familiengeheimnisse, weiter gegeben werden.
Vielleicht, wenn Sie selber den Versuch wagen, geht es Ihnen ähnlich wie mir und Sie entdecken plötzlich bis anhin unsichtbare Vorfahrinnen.
Ich für meinen Teil werde weiterforschen, um ihr Andenken so zu ehren und sie zu wertschätzen. Das bin ich meinen Müttern und vor allem mir selber schuldig.
Dazu passt die aktuelle Kontroverse um Lauren Sandlers Artikel im »Time Magazine« über kinderlose Frauen – Stimmung so in etwa »Eine Frau, die keine Kinder hat / will / bekommen kann ist eine halbe Frau, wertlos«. Und das im Jahr 2013 und nicht nur in den US-Medien, sondern auch hier (wie z.B. im Tagesanzeiger zu verfolgen).
Ich kann nicht wissen, wie die Situation in der eher ländlichen Schweiz der 70er und 80er für Deine Mutter hat aussehen müssen, nach Fehlgeburt und totem Kind. Mein Gefühl sagt mir »noch deutlich heftiger«; meine Mutter wurde jedenfalls bereits wegen ihrer Scheidung angefeindet wie blöde, innerhalb und außerhalb der Familie.
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Liebe Zora,
Dein Bericht hat mich sehr berührt. Zwar habe ich eine tolle Beziehung zu meiner (großartigen) Mutter, aber ich höre so oft von dysfunktionalen Mutter-Tochter-Konstrukten und es tut mir für jede einzelne schrecklich leid.
Bei Deinem „Fall“ musste ich nun sofort an die Methode der Familienaufstellung denken. Man mag davon halten, was man will, aber ich habe zweimal eine Familienaufstellung unter sehr guter Leitung gemacht – es ging dabei einmal um meine ebenfalls verstorbene ältere Schwester, die ich unterbewusst sehr vermisste, und einmal um die Loslösung aus einer alten Beziehung – und gute Ergebnisse damit erzielt. Andere Teilnehmer konnten ähnliche Generationen-Verstrickungen wie Deine tatsächlich damit lösen. Wichtig ist, keinen Aufsteller zu erwischen, der kategorisch nach Hellinger arbeitet, sondern dessen Ur-Methode kritisch hinterfragt und weiterentwickelt hat.
Freilich: Das Beste an der ganzen Sache ist, dass jemand überhaupt etwas tut. Den Kreislauf der immer gleichen alten Schuld, Scham, Angst, Trauer oder Passivität durchbricht, damit wenigstens die Folgegenerationen, davon unbehelligt, ein neues Glück anstreben können. Ich finde, dass eine (verantwortungsvoll geführte!) Familienaufstellung etwas bringen KANN. Wenn man sich darauf einlassen mag.
Viel Glück und Kraft auf Deinem weiteren Weg! Ich finde es schön, dass Du inzwischen so liebevoll auf Deine Mutter schauen und ihre Rolle in Deinem Leben wertschätzen kannst.
Liebe Grüße!
Lilian
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Was sich alles ergibt an einem regnerischen Mittwoch ende August, im bittersüssen nicht’s tun…
Da finde ich eine wundervolle Fülle an Texten, Geschichten, Biographischen Geschichten, mir fehlen echt die Worte und das alles von dir liebe „Zora“.
Ich bin beeindruckt und freue mich was da an Schätzen zu finden ist.
Eine der geheimnisvollsten ist meiner Meinung nach eben gerade der unserer Mütter, unserer Vorfahrinnen. Gehasst und geliebt, gewonnen und wieder verloren. Mir scheint es ein ewiges ringen zu sein, letztendlich ein ringen mit sich selbst. Den kaum habe ich akzeptiert, dass ich mich in dieser Frauenrolle meiner Mutter wieder finde, finde ich auch den Schmerz und all die Trauer die unsere Geschichte mit sich bringt. Und das scheint mir die Herausforderung zu sein, damit umzugehen, das ich mich lerne selber zu mögen, zu lieben…
Bis bald liebe Grüsse
Käthy
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